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       # taz.de -- Flüchtlingspolitik in Deutschland: Nervöse Aktivität zur Abwehr
       
       > Keine Idee scheint zu abwegig, um nicht diskutiert zu werden: Lager in
       > Afrika, Einstellung der Seenotrettung – und alles nur um Flüchtlinge
       > fernzuhalten.
       
   IMG Bild: Deutsche Politik ist darauf ausgerichtet, dass Geflüchtete nicht einmal die Nachbarländer erreichen
       
       Im Winter 2016 ist Deutschland ungeduldig: Seit einem Jahr arbeitet die EU
       mit Hochdruck daran, die Staaten Afrikas auf Linie zu bringen. Der
       Bundesregierung jedoch geht es nicht schnell genug voran: In einem internen
       Memo vom 30. November drängt das Auswärtige Amt (AA) darauf, dass die EU
       auch mit Ägypten endlich Verhandlungen über eine Migrationspartnerschaft
       aufnimmt. Dabei müsse das „Thema Rückführung“ als eines der politischen
       Ziele „betont werden“, so das AA. Der Rat der EU möge dies bei seinem
       nächsten Treffen beschließen.
       
       Dass Deutschland sich derart ins Zeug legt, ist neu. Anders als Spanien
       oder Italien hatte die Bundesrepublik lange nur wenig Engagement in Sachen
       externer Migrationskontrolle gezeigt. Es kamen schließlich nicht viele
       Flüchtlinge in Deutschland an. Nach einem Hoch der Asylzahlen in der ersten
       Hälfte der neunziger Jahre brachte ein als „Asylkompromiss“ bekannt
       gewordenes Gesetzespaket – inklusive Grundgesetzänderung – 1993 eine
       Verschärfung der Aufnahmebedingungen. Vor allem die darin enthaltene
       Drittstaatenklausel senkte die Zahl der Asylanträge. Hinzu kam bald darauf
       die europäische Dublin-Regelung. Sie sorgte dafür, dass die meisten
       Flüchtlinge in den Außengrenzen-Staaten wie Griechenland und Italien
       blieben. Bis 2007 sank die Zahl der Asylanträge in Deutschland deshalb auf
       ein Rekord-Tief von 19.164. Seitdem geht die Kurve nach oben – und
       Deutschland mischt sich wieder mehr ein.
       
       So entfaltete deutsche Regierungsbehörden in den letzten Jahren allerlei
       Aktivitäten zur Aufrüstung der afrikanischen Grenzen.
       Bundesverteidigungsministerium und Auswärtiges Amt stellten 2016 mehrere
       Millionen Euro für die „Ertüchtigung“ von Partnerstaaten bereit. Tunesien
       bekam daraus 20 Millionen Euro, unter anderem für elektronische Überwachung
       an der Grenze zu Libyen und die Ausbildung der Grenzpolizei. 2017 soll es
       für Tunesien weitere 40 Millionen geben. Deutsche Bundespolizisten bilden
       tunesische Grenzschützer aus, die Bundeswehr schickt Schnellboote und
       gepanzerte Lastwagen.
       
       2017 will Deutschland mobile Überwachungssysteme mit
       Bodenaufklärungssystemen übergeben. Fünf Nachtüberwachungssysteme, 25
       Wärmebildkameras, 25 optische Sensoren und fünf Radarsysteme sind bereits
       nach Tunesien geliefert. Das Land bekommt eine Hightech-Grenze praktisch
       umsonst. Schon im März 2012 entsandte die Bundespolizei einen
       „grenzpolizeilichen Verbindungsbeamten“ in die Hauptstadt Tunis. Der
       sammelt „Lageerkenntnisse“ über illegale Migration (näheres siehe
       Länderreport Tunesien).
       
       ## Menschenrechte sind nachrangig
       
       Auch nach Ägypten hat Deutschland einen Polizisten als Verbindungsbeamten
       entsandt. Im April 2016 sprach Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel
       (SPD) bei einem Besuch in Kairo nicht nur über den geplanten Verkauf zweier
       U-Boote, sondern bot auch Hilfe für die Abschottung der libysch-ägyptischen
       Grenze und für Kontrollmaßnahmen auf dem Sinai an. Im Juni 2016 signierten
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein ägyptischer Amtskollege
       Magdy Abdel Ghaffar nach rund zweijährigen Verhandlungen ein
       Sicherheitsabkommen. Es geht um den Kampf gegen organisierte Kriminalität,
       Terrorismus sowie Katastrophenschutz.
       
       Schon 2015 begannen Ausbildungsmaßnahmen für die ägyptische Grenzpolizei
       durch die Bundespolizei sowie für die Geheimdienste GIS und NSS durch das
       Bundeskriminalamt. 2016 führte die Bundespolizei für Ägypten insgesamt fünf
       Trainings unter anderem im Bereich Grenzschutz durch – eine heikle
       Angelegenheit angesichts der Menschenrechtslage. Denn Ägyptens
       Anti-Terror-Gesetz versteht unter einer Terrororganisation alles, was „in
       irgendeiner Weise die öffentliche Sicherheit und Ordnung stört oder die
       Interessen der Bevölkerung bedroht.“ Mit Blick auf die aktuelle
       Migrationslage jedoch werde die Bundespolizei ihre Ausbildungs- und
       Ausstattungshilfe im Bereich Grenzschutz mit Ägypten intensivieren,
       antwortete die Bundesregierung im Frühjahr auf eine Anfrage der Grünen
       (näheres siehe Länderreport Ägypten).
       
       Seit 2012 betreibt die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ)
       im Auftrag des Auswärtigen Amtes das „Polizeiprogramm Afrika“ in
       Mauretanien, Niger, Tschad sowie Nigeria. Die Bundesregierung stellt von
       2016 bis 2018 dafür rund 26 Millionen Euro zur Verfügung. Grenzpolizisten
       im ländlichen Raum sollen die „relevanten Prozeduren bei der Ein- und
       Ausreise von Personen (…) verfahrenssicher“ lernen. Im Transitstaat
       Mauretanien baut die GiZ dabei unter anderem drei Grenzstationen für
       210.000 Euro, lieferte neun Pass- und Fingerabdruckscanner, bildete 102
       Grenzpolizisten fort und baute einen Pool von Trainern im Bereich
       Grenzsicherheit auf.
       
       Niger bekam für 1,35 Millionen Euro neun Polizeistationen an der Grenze zu
       Nigeria, die Grenzpolizei 9 Pick-Ups für 270.000 Euro und zwölf Motorräder
       für je 10.000 Euro, dazu Ausbildungseinheiten für die Grenzpolizei. Im
       Tschad wurde ein Grenzposten an der Grenze zu Kamerun gebaut. In der
       dritten Phase des Polizeiprogramms Afrika bis 2018 sollen Polizeistrukturen
       in Mauretanien, Elfenbeinküste, Niger, Demokratische Republik Kongo,
       Kamerun, Nigeria und Süd-Sudan unterstützt werde. Auch das Interpol-Projekt
       „Adwenpa II“ wird von der Bundesregierung finanziert. Von 2016 bis 2018
       werden dabei in 14 westafrikanischen Staaten Grenzschützer ausgebildet.
       
       ## Zurückhaltung im Sudan
       
       Im Jahr 2015 floss für den „Kampf gegen Menschenhandel und Schlepperei“
       rund eine Viertelmillion Euro nach Marokko, Guinea-Bissau und Mauretanien,
       2016 bekamen 18 afrikanische Staaten aus Berlin insgesamt rund 1,8
       Millionen Euro zu diesem Zweck. Im Dezember 2016 beschloss das
       Bundeskabinett, sich an der zivilen EU-Mission SAHEL-CAP zur Bekämpfung von
       Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel im Niger zu beteiligen. 20 Beamte
       der Bundespolizei und Landespolizeien sollen nach Niger geschickt werden –
       dem wichtigsten Transitland von afrikanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach
       Europa.
       
       Eines der wichtigsten Projekte in diesem Bereich ist das „Better Migration
       Management“-Programm der GiZ. Die EU gibt dafür 40 Millionen Euro,
       Deutschland weitere 6 Millionen. Es soll nach Auskunft der GiZ „das
       Migrationsmanagement am Horn von Afrika verbessern“ und „Schleusertum und
       Menschenhandel eindämmen“. Dabei sind nicht nur Staaten wie Djibouti, Kenia
       oder Somalia, sondern auch Diktaturen wie Äthiopien, Sudan und Eritrea. Die
       GiZ besteht darauf, die Wunschliste des sudanesischen Regimes für
       Ausrüstung abgelehnt zu haben (näheres hierzu im Länderreport Sudan).
       
       Mit der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015 gingen auch die
       Abschiebezahlen in die Höhe. Nach einer Auflistung vom November 2016 schob
       Deutschland zwischen 2010 und 2014 zwischen 4.800 und 5.400 Menschen pro
       Jahr ab. 2015 stieg die Zahl dann auf 16.337, 2016 waren es bis Oktober
       17.137. Abschiebungen innerhalb der EU sind hierbei nicht eingerechnet. Im
       Laufe der Jahre hat Deutschland formale Rücknahmeabkommen mit Albanien,
       Armenien, Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Cabo Verde, Georgien,
       Hongkong, Macao, Mazedonien, Moldau, Montenegro, Pakistan, Russische
       Föderation, Serbien, Sri Lanka, der Türkei und der Ukraine geschlossen. Die
       Bundesrepublik kann somit auch Angehörige anderer Staaten oder Staatenlose
       in diese Länder abschieben, wenn diese ein Aufenthaltsrecht für diese
       Länder haben – oder „illegal und auf direktem Wege“ aus diesen Ländern nach
       Deutschland eingereist sind. Zwischen 200 und 500 Personen pro Jahr wurden
       seit 2010 von Deutschland in Länder außerhalb der EU abgeschoben, die nicht
       ihr Heimatland waren. Zu den häufigsten Zielländern gehörten dabei Serbien,
       Kosovo und Albanien.
       
       ## Kurden nach Syrien
       
       Einen Tiefpunkt in Deutschlands Bemühungen um Abschiebe-Vereinbarungen
       bildete der Vertragsschluss zwischen dem damaligen Bundesinnenminister
       Wolfgang Schäuble (CDU) und seinem damaligen syrischen Amtskollegen Bassam
       Abdel Madschid 2008. Als die deutschen Ausländerbehörden begannen, von der
       Regelung Gebrauch zu machen, wurden Kurden und Yesiden direkt nach ihrer
       Abschiebung in Damaskus verhaftet. Das Regime warf ihnen „Beschädigung des
       Ansehens Syriens im Ausland vor – wohl wegen der Gründe, die die
       Flüchtlinge in ihren abgelehnten Asylanträgen vorgebracht hatten. Nach
       Beginn des Krieges 2011 wurde das Abkommen zwar ausgesetzt, nicht aber
       gekündigt.
       
       Bereits seit 1998 existiert auch eine Abschiebe-Vereinbarungen mit Marokko,
       2006 unterzeichnet Deutschland eine solche mit Algerien. Die
       Bundesregierung allerdings ist mit deren Umsetzung unzufrieden: „Die Länder
       müssen verstehen: Die Zusammenarbeit in Migrations- und Rückführungsfragen
       ist aus unserer Sicht ein zentraler Faktor des bilateralen Verhältnisses.
       Unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit in anderen Feldern hängt davon ab“,
       sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Januar 2016.
       
       Bald darauf reise de Maizière nach Nordafrika. Tunesien gab die Zusage für
       ein Pilotprojekt: Abschiebeflüge mit bis zu 25 Tunesiern in eigens
       bereitgestellten Chartermaschinen. Tunesische Botschaftsmitarbeiter sollen
       künftig bereits in den deutschen Asyl-Unterkünften helfen, die Identität
       ihrer Landsleute zu klären. De Maizière übergab bei einem Besuch im
       Hauptquartier der Grenzschutztruppe der Nationalgarde unter anderem 27
       Geländewagen, Splitterschutzwesten und Nachtsichtgeräte. Die marokkanische
       Regierung stimmte einem Biometriedatenabgleich zu: Innerhalb von 45 Tagen
       soll sie nun antworten, wenn die deutschen Behörden Fingerabdrücke zur
       Feststellung der Identität von ausreisepflichtigen Flüchtlingen
       übermitteln.
       
       ## Besuch in der Bundesdruckerei
       
       Es war da vermutlich kein Zufall, dass Anfang 2016 Veridos, ein
       Gemeinschaftsunternehmen der Bundesdruckerei und der deutschen IT-Firma
       Giesecke & Devrient, bekanntgab, von Marokko mit der „Entwicklung und
       Umsetzung eines nationalen Grenzkontrollsystems“ beauftragt worden zu sein.
       Geliefert werden unter anderem biometrische Scanner, Passlesegeräte,
       Kontrollschleusen und Server für 1.600 Kontrollposten. Außerdem, so
       bestätigt die Bundesdruckerei, druckt sie für Libyens Übergangsregierung
       aktuell Rohpässe. Auch eine Delegation der Immigrationsbehörde Sudans
       stattete ihr jüngst einen Besuch ab.
       
       Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel ging 2016 auf Reisen nach Afrika, um
       für bessere Abschiebemöglichkeiten zu sorgen. Niger stellte Merkel dabei
       „umfassende Hilfe“ in Aussicht. Deutschland werde die nigrische Armee mit
       Lkw und Kommunikationsausrüstung unterstützen, sagte Merkel in der
       Hauptstadt Niamey nach einem Treffen mit Staatschef Mahamadou Issoufou.
       Außerdem sollen Jobs geschaffen werden für „Menschen, die derzeit vom
       Menschenschmuggel leben.
       
       Präsident Mahamadou Issoufou mochte die günstige Gelegenheit nicht
       verstreichen lassen – und forderte prompt mehr Geld. Ein bloßer Anteil aus
       dem mit 1,8 Milliarden Euro ausgestatteten EU Treuhandfonds sei zu wenig:
       „Wir brauchen eine massive Unterstützung für unser Land.“ Eine Milliarde,
       stelle er sich vor. Merkel legte immerhin zehn Millionen Euro für die Armee
       und 17 Millionen Euro für Jobförderung rund um Agadez auf den Tisch. Ohne
       Entwicklung könne von den Menschen nicht erwartet werden, sich „dem Kampf
       gegen die illegale Migration zu widmen“.
       
       ## Geschäftigkeit im Kanzleramt
       
       In Äthiopien, wo seit sechs Monaten der Ausnahmezustand herrscht und
       Regierungschef Hailemariam Desalegn mit äußerster Brutalität gegen
       Regimgegner vorgeht, bot Merkel eine Zusammenarbeit mit dem
       Bundesinnenministerium zur Ausbildung der äthiopischen Polizei an, „damit
       die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt wird und nicht so viele Menschen
       umkommen bei solchen Ausschreitungen“. Desalegn ließ sie wissen, die
       Demokratie in Äthiopien sei „noch nicht flügge“.
       
       Direkt nach ihrer Rückkehr empfing sie in Berlin zuerst den Präsidenten des
       Tschad, Idriss Deby Itno. Der durfte sich über 8,9 Millionen Euro freuen –
       „um zusätzlich zu dem Engagement, was wir heute schon haben“, sagte Merkel,
       um „zu helfen bei Wasser- und Ernährungsproblemen.“ Schließlich habe Tschad
       „mehr als 700.000 Flüchtlinge aus anderen Ländern aufgenommen“.
       
       Itno war noch nicht wieder zu Hause, da landete schon Nigerias Präsident
       Muhammadu Buhari, der dafür sogar den Auftakt des Gipfels der Afrikansichen
       Union im togoische Lomé verpasste. 10.200 Nigerianer haben in den ersten
       neun Monaten des Jahres einen Asylantrag gestellt, mehr als doppelt so
       viele wie im gleichen Zeitraum 2015. Die Anerkennungsrate liege bei acht
       Prozent, sagte Merkel, das „beweist, dass die meisten Nigerianer aus
       wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kämen“. Auch Nigeria sagte Merkel
       Geld zu, die Gegenleistung wird prompt erwartet: Die EU werde Verhandlungen
       mit Nigeria über ein Migrationsabkommen aufnehmen. „Wir werden auch über
       ein Rückführungsabkommen sprechen.“
       
       ## Deutschland und Frontex
       
       Deutsche Beamte haben seit jeher führende Positionen in der
       EU-Grenzschutzagentur Frontex inne. Wichtige Entscheidungen für die Arbeit
       von Frontex werden auch im Verwaltungsrat der Agentur getroffen, in dem
       sich alle beteiligten Mitgliedstaaten organisieren. Er wird von Ralf Göbel
       geleitet, einem früheren Vizepräsidenten des Bundespolizeipräsidiums und
       mittlerweile hohen Beamten im Bundesinnenministerium. Auch der Leiter der
       Frontex-Operativabteilung Klaus Rösler ist Deutscher. Mehrfach hat der sich
       auch politisch zu Wort gemeldet und sich gegen Rettungsmaßnahmen vor der
       libyschen Küste ausgesprochen.
       
       Im Dezember 2014 schrieb Rösler einen Brief an den Direktor der
       italienischen Einwanderungsbehörde und Grenzpolizei des Innenministeriums,
       Giovanni Pinto. Er forderte sie auf, keinen Notrufen außerhalb der
       30-Meilen-Zone mehr nachzukommen. Die entspreche „nicht dem operativen
       Plan“. In jener Zeit stieg die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge im
       Mittelmeer stark an. Das hat sich bis heute fortgesetzt. Gleichwohl sagte
       Rösler im Juni 2016 bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in
       Brüssel, dass eine der Ursachen für die hohe Zahl von Bootsflüchtlingen
       gerade auch die intensivere Überwachung und Seenotrettung durch die EU sei.
       Sie führe dazu, dass Schlepper noch ungehemmter Flüchtlinge in wenig
       seetüchtigen Booten auf die Reise schickten, weil viele Migranten darauf
       setzten, von der EU aus dem Meer geholt zu werden. „Das löst Ausreisen
       aus“, sagte Rösler.
       
       Bis 2013 hielt Deutschland unverrückbar am Dublin-System fest. Das System
       habe sich „bewährt“, erklärte die Bundesregierung immer wieder. Ein Jahr
       später war das plötzlich anders. „Wir müssen uns verständigen auf
       Aufnahmequoten etwa nach Einwohnern“, sagte de Maizière bei der
       EU-Innenministerkonferenz am 9. Oktober 2014 in Luxemburg. Genau das hatten
       die Länder Südeuropas seit Jahren verlangt. Jedes mal waren sie dabei am
       Widerstand vor allem aus Berlin gescheitert. Rund 11 Prozent der
       Asylanträge fielen 2009 auf Deutschland – wesentlich weniger, als es bei
       einem Quotensystem aufnehmen müsste. Doch seitdem wuchs dieser Anteil, die
       südeuropäischen Staaten vermochten die Flüchtlinge nicht mehr im Land zu
       halten: 2011 war dann ein Fünftel, 2012 ein Viertel, von Mitte 2013 bis
       Mitte 2014 wurde EU-weit jeder dritte Asylantrag in Deutschland gestellt.
       Lange hatte Deutschland von der Dublin-Regelung profitiert. Just als sich
       das änderte, entdeckt es auf einmal die Nachteile am angeblich „bewährten“
       Dublin-Systems.
       
       ## Lager in der Herkunftsregion
       
       Obwohl Deutschland zu jener Zeit keineswegs im Zentrum der Fluchtmigration
       nach Europa stand, unternahm die Bundesregierung 2004 einen Vorstoß, der
       zwar bislang keinen Erfolg hatte, aber bis heute kursiert. Es dürfe nicht
       der Eindruck entstehen, sich mit einer Flucht über das Mittelmeer Zugang zu
       EU-Häfen verschaffen zu können, sagte der damalige SPD-Innenminister Otto
       Schily 2004. Man müsse prüfen, ob sich die Asylanträge von Migranten, die
       aus Seenot gerettet werden, nicht in „Einrichtungen“ Nordafrika bearbeiten
       ließen. „Die Probleme Afrikas müssen mit Unterstützung Europas in Afrika
       gelöst werden“, sagte Schily.
       
       Gut ein Jahr zuvor, kurz nach Beginn des Irak-Kriegs im März 2003, hatte
       der britische Premierminister Tony Blair seine „New Vision for Refugees“
       präsentiert. Auch er wollte den europäischen Flüchtlingsschutz möglichst
       weitgehend in die Herkunftsregionen auslagern. Flüchtlinge, denen es
       gelinge, europäischen Boden zu erreichen, sollten in „Schutzzonen“ in ihren
       Herkunftsregionen zurückgeschafft werden. Die EU sollte möglichst weltweit
       ein Netz solcher Flüchtlingslager errichten. Dort könne der UNHCR die
       Schutzbedürftigkeit prüfen.
       
       Im Wege eines Experiments, erklärte Schily nun ein gutes Jahr später, könne
       er sich Lager in Nordafrika vorstellen. Ein „europäischer
       Seenotrettungsdienst“ könnte das Mittelmeer überwachen und die
       Aufgenommenen in das Land zurückbringen, aus dem sie aufgebrochen sind. Zur
       Prüfung der Asylanträge könnten dort Beamte der EU-Staaten, aber auch der
       Kern einer eigenen EU-Flüchtlingsbehörde eingesetzt werden, sagte Schily.
       Falls es keinen Asylgrund gebe, müssten gerettete Flüchtlinge in ihre
       Herkunftsländer zurückgebracht werden. „Eine gerichtliche Kontrolle muss es
       nicht zwangsläufig geben“, sagte Schily. Schließlich sei man in Nordafrika
       „außerhalb des Rechtsgebiets der EU“. Auch bei anerkanntem Fluchtgrund
       sollten die Menschen in erster Linie in einer heimatnahen Region
       untergebracht werden.
       
       Wie es aussieht, hat sich die Bundesregierung vorgenommen, Schilys Idee als
       dessen spätes politische Erbe zu verwirklichen.
       
       15 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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