URI:
       # taz.de -- Flüchtlinge in Griechenland: Eigentlich keine Kraft mehr
       
       > Die Familie Marbuk sitzt in einem griechischen Militärcamp im Lager
       > Softex fest. Dabei müsste sie längst an einem anderen Ort sein.
       
   IMG Bild: So kann es nicht gehen: Flüchtlinge aus einem griechischen Lager protestieren gegen die Zustände vor Ort
       
       Saloniki taz | Zu sechst leben die Marbuks in einem Militärzelt. Dicht an
       dicht stehen diese Zelte in einer dunklen ehemaligen Fabrikhalle. „Die
       Nachbarn hören alles mit, und es ist rund um die Uhr laut“, sagt Suzan
       Marbuk. Dabei fühlt sich die Familie noch privilegiert. Jenen, die das Camp
       später erreichten, blieb nur ein Zelt draußen auf dem Vorplatz.
       
       Seit drei Monaten brennt die Sonne Tag für Tag auf die 1.400 BewohnerInnen
       des Softex-Camps herunter, einem der rund zwanzig Militärcamps für
       Geflüchtete in der Region um Thessaloniki. Immer wieder kollabieren
       Menschen unter den harten Bedingungen. „Wenn wir unter diesen Bedingungen
       weiterleben, brechen wir alle bald zusammen“, sagt Familienoberhaupt
       Mosshen Marbuk. „Der Junge ist traurig, vermisst seine Eltern. Wir alle
       hier sind traurig.“
       
       In den Duschboxen neben der Fabrikhalle fließt nur kaltes Wasser. Zweimal
       am Tag fährt ein Lkw vor und wirft knapp bemessene, eingeschweißte
       Essensrationen ab. Fast jeder hier kann entzündete Insektenstiche
       vorzeigen. Die griechische Gesundheitsbehörde empfahl im Juli der Regierung
       gar, die Camps in Nordgriechenland zu schließen, da sie allzu oft in der
       Nähe von Brutstätten einer gefährlichen Stechmückenart gebaut wurden.
       
       Viele Menschen im Softex-Camp teilen denselben Gesichtsausdruck, einen
       müden, teilweise apathischen Blick. Der Trostlosigkeit trotzen manche mit
       Drogen. Ein 17-Jähriger erzählt mit verlangsamter Stimme: „Ich bin alleine
       hier. Zu Hause wusste ich nicht einmal, was Drogen sind, ehrlich. Hier
       rauche ich Zigaretten, Marihuana, alles. Weil ich es sonst nicht aushalte.“
       Er hebt seine Arme zur entschuldigenden Geste, sein rechtes Handgelenk ist
       verbunden, die linke Armbeuge ebenfalls.
       
       Den berüchtigten Schleppern Kundschaft zu vermitteln, damit verdient sich
       der Junge das Geld für seinen nächsten Rausch. Gewalt ist bei der
       angespannten Atmosphäre ebenfalls keine Seltenheit. Es gibt auch Berichte
       von sexuellem Missbrauch an Kindern. Eine Vertreterin von Ärzte ohne
       Grenzen erzählt, viele Frauen und Kinder trauten sich nachts nicht mehr aus
       dem Zelt. Auch andere Freiwillige wollen gegenüber der taz von
       Missbrauchsfällen gehört haben.
       
       ## Polizei und Militär schauen zu
       
       Die Polizei und das Militär bleiben bei Gewalt bislang passiv. Überhaupt
       zeigen die Behörden praktisch keine Präsenz. Von vier Zugängen wird ein
       einziger kontrolliert. Und das, obwohl die Behörden für die Sicherheit im
       Camp zuständig sind.
       
       Das Camp öffnete nach der Räumung Idomenis. Auch Mosshen und seine Familie
       harrten zuvor in den Feldern um Idomeni aus. Am 25. Mai drängte sie die
       griechische Polizei in Busse und brachte sie in das Lager: „Als ich das
       hier sah, kamen mir die Tränen“, erinnert sich Suzan.
       
       In den ersten zwei Tagen habe es keine Toilette gegeben, erzählt sie.
       Feldbetten bekamen sie erst nach Wochen. Dauernd hätten die Militärs
       Verbesserung gelobt, passiert sei kaum etwas. Die NGOs Save the children
       und Intervolve haben in den vergangenen Tagen eine Schule geöffnet, um die
       Stimmung aufzulockern. „Wir können uns kaum konzentrieren und vergessen
       immer mehr von dem, was wir einmal konnten“, sagt Suzan. Sie und ihr Mann
       arbeiteten beide als Ingenieure in Aleppo, bevor der Krieg sie zur Flucht
       zwang.
       
       Auch die Ersparnisse sind nach sechs Monaten aufgebraucht. Nicht einmal den
       Bus in die Stadt kann sich die Familie noch regelmäßig leisten. Aus Mosshen
       spricht schiere Verzweiflung: „Für meine Kinder bin ich der Papa, der es
       schon geregelt bekommt. Aber ich bekomme es nicht geregelt. Vor ihnen muss
       ich stark sein, dabei habe ich eigentlich keine Kraft mehr.“
       
       ## Protestaktion in Thessaloniki
       
       Anfang August immerhin setzten die BewohnerInnen ein Zeichen. Acht Tage
       lang verweigerten sie das angelieferte Essen und blockierten am letzten Tag
       eine Stunde lang eine der Hauptachsen der Innenstadt von Thessaloniki. Die
       Polizei versprach schließlich Verhandlungen mit den Geflüchteten. Auch
       Mosshen gehörte zu den fünf BewohnerInnen, die sich am 8. August mit
       Vertretern der Polizei, des Militärs, des UN-Flüchtlingshilfswerks und der
       Regierung trafen.
       
       Eine schnelle Lösung für die besonders prekären Fälle wurde versprochen
       sowie eine verbesserte Infrastruktur. Auf seine wichtigste Frage aber, wie
       lange sie bleiben müssten, erhielt Mosshen keine Antwort. „Wir kamen vor
       dem EU-Türkei-Deal an. Warum lässt man uns nicht weiter?“, fragt er.
       
       Auch wohin das sogenannte Relocation-Programm seine Familie bringt, weiß er
       nicht. „Das ist das größte Problem“, meint Mosshen: „Wenn mir jemand sagt,
       in sechs Monaten kommt ihr dahin, kann ich die Zeit nutzen, um die Sprache
       zu lernen und mich auf das Land und seine Menschen vorzubereiten. So aber
       sind wir zum Warten verdammt.“
       
       17 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristof Botka
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Griechenland
   DIR Thessaloniki
   DIR Schwerpunkt Demokratische Republik Kongo
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Idomeni
   DIR Griechenland
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Griechenland
   DIR Idomeni
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Flüchtlinge
   DIR Griechenland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kongolesischer Flüchtling in Griechenland: Der Musterschüler
       
       Sein erster Versuch, Kongo zu verlassen, endet dramatisch. Doch schließlich
       landet Julien in Griechenland – und schafft neue Maßstäbe.
       
   DIR Fotos auf der Flucht: Den Vergessenen ein Gesicht
       
       Der 18-jährige Abdulazez Dukhan aus Syrien sitzt in Griechenland fest.
       Statt sich aufzugeben, wird er zum Sprachrohr der Gestrandeten.
       
   DIR „Journeys #3“-Album von Jim Kroft: Singen und fliehen
       
       Der schottische Künstler Jim Kroft war mehrere Wochen auf Lesbos und in
       Idomeni unterwegs. Davon erzählt er auf seinem neuen Album.
       
   DIR Abschiebestopp? Egal!: Abschiebung nach Griechenland
       
       Das Bundesamt für Flüchtlinge will einen Syrer nach Griechenland schicken –
       dabei besteht ein Abschiebestopp dorthin, weil Refugees unmenschliche
       Behandlung droht
       
   DIR Kommentar Griechische Flüchtlingspolitik: Trügerische Ruhe in Hellas
       
       Die kastastrophalen Bedingungen für Flüchtlinge werden von der Athener
       Regierung heruntergespielt. Das wird nicht mehr lange gutgehen.
       
   DIR Flüchtlinge in Griechenland: „Die Camps füllen sich wieder“
       
       Mütter mit Kleinkindern müssen im Freien schlafen, in einigen Lagern gibt
       es nicht genug Trinkwasser. Und Asylverfahren dauern eine Ewigkeit.
       
   DIR Flüchtlinge in Griechenland: Heimweh nach Idomeni
       
       Das Camp an der Grenze zu Mazedonien wurde aufgelöst. In den neuen
       Notunterkünften herrschen unhaltbare Zustände.
       
   DIR Leben in Idomeni: Für die Liebe ins Lager
       
       Mahmoud Ibrahim lebte als Flüchtling in Mölln. Seine Frau schaffte es nur
       bis ins griechische Idomeni. Er reiste zu ihr und wohnt nun freiwillig im
       Camp.
       
   DIR Flüchtlingsabkommen mit der Türkei: Der Deal steht – viele Fragen offen
       
       Seit Sonntag ist das Abkommen der EU mit der Türkei in Kraft. Doch viele
       Details sind ungeklärt. Die Grünen wollen unterdessen die
       Idomeni-Flüchtlinge aufnehmen.
       
   DIR Flüchtlingscamp in Griechenland: Der große Graben
       
       Das Camp in Idomeni an der mazedonisch-griechischen Grenze wird geräumt.
       Zuletzt saßen dort Tausende fest – in Dreck und Kälte.
       
   DIR Flüchtlinge in Griechenland: Schludrige Asylbürokratie
       
       Die überforderte Bürokratie macht Flüchtlingen das Leben schwer. Sie
       erhalten falsche Reisepapiere und werden dann dafür bestraft.